Der Blick über den Tellerrand
„Lost Generation“? Die Lehre als echte Perspektive für Berufseinsteiger
Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, Bildungskrise: Die duale Berufsbildung als Chance für einen erfolgreichen (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben.
Zuletzt aktualisiert am 05.04.2023, 08:40
Die Corona-Pandemie hat die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst – steigende Arbeitslosigkeit, Kurzarbeitszahlen sowie Ausgaben für Sozial- und Wirtschaftshilfen inbegriffen. Dass wir aktuell in einer Zeit hoher Unsicherheit leben, steht außer Frage. Vor allem junge Menschen, die sich an der Schnittstelle „Schule-Wirtschaft“ befinden und ihren persönlichen Berufsweg erst finden müssen, werden daher in den Medien gerne als „Lost Generation“ bezeichnet. Weniger aufgrund möglicher traumatischer Erlebnisse im Rahmen der Covid-19-Pandemie, sondern vielmehr wegen der angeblichen Perspektivenlosigkeit am heimischen Arbeits- und Lehrstellenmarkt.
Lehrstellenüberhang trotz Corona-Krise: Die Zahl der gemeldeten offenen Lehrstellen liegt über dem Vorkrisenniveau
Die Vermutung, betriebliche Ausbildungsmöglichkeiten seien in Krisenzeiten stark begrenzt, hält sich weiterhin hartnäckig, auch wenn aktuelle Entwicklungen ein anderes Bild zeichnen. In diesem Zusammenhang lohnt sich insbesondere ein Blick auf die Statistik zum Lehrstellenmarkt seitens des Arbeitsmarktservice (AMS): Dieser zufolge waren Ende August 2021 in der Steiermark 2.015 offene Lehrstellen beim AMS gemeldet (davon sofort verfügbar: 1.305; nicht sofort verfügbar: 710), Lehrstellensuchende waren hingegen nur 1.489 registriert (davon sofort verfügbar: 1.072; nicht sofort verfügbar: 417). In der Steiermark bestand demnach ein Überhang von 526 (gesamt) bzw. 233 (sofort verfügbar) Lehrstellen, oder anders ausgedrückt: Auf jeden Lehrstellensuchenden entfiel zumindest eine offene Lehrstelle. Die Steiermark ist damit unter den österreichischen Bundesländern keineswegs allein: Insgesamt bezifferte sich der rechnerische Lehrstellenüberhang österreichweit Ende August 2021 auf 3.739 Lehrstellen, wobei – im Vergleich zu den Vorjahresmonaten (August 2012 bis August 2020) – auch bei den sofort verfügbaren Lehrstellen ein Überhang von 605 bestand.
Der Grund für das Missverhältnis von offenen Lehrstellen und Lehrstellensuchenden ist somit nicht die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Betriebe. Heimische Unternehmen suchen auch in Krisenzeiten Jugendliche und interessierte Erwachsene, die sich zur Fachkraft ausbilden lassen möchten. Das bestätigt auch die Entwicklung der Zahl der beim AMS gemeldeten offenen Lehrstellen: In der Steiermark lag diese im Frühjahr nur noch unwesentlich (1,4 %) unter dem Vorkrisenniveau (April 2021: 2.901; April 2019: 2.942), Ende August 2021 gab es sogar deutlich mehr offene Lehrstellen als 2019 (August 2021: 2.015; August 2020: 1.894, August 2019: 1.581). Unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung besteht somit eine klare Ausbildungsbereitschaft der steirischen Unternehmen. Der Rückgang der Lehranfängerinnen und -anfänger – vor allem 2020 (‑8,8 %) und im ersten Quartal 2021 (‑6,8 %) – ist auf andere Faktoren zurückzuführen, die nicht unmittelbar mit dem heimischen Lehrstellenmarkt zusammenhängen.
Erleichterte Aufstiegsmodalitäten und Informationsdefizite begünstigen den Verbleib im Schulsystem
Die Covid-19-bedingte Forcierung von „Distance Learning“ und die Einschränkung des Präsenzunterrichtes an Österreichs Schulen brachte auch eine Änderung der Benotungs- und Aufstiegsmodalitäten mit sich: Beispielsweise durfte es im Sommersemester 2021 pro Unterrichtsfach nur noch eine Schularbeit geben, auf nicht durchgenommene Stoffgebiete war bei der Matura verstärkt Rücksicht zu nehmen und auch ein „Nicht genügend“ im Jahreszeugnis hinderte Schülerinnen und Schüler grundsätzlich nicht an einem Aufstieg in eine höhere Schulstufe. Gleichzeitig hat die Corona-Krise dazu geführt, dass Bildungs- und Berufsorientierungsaktivitäten an Schulen stark eingeschränkt und damit auch die Möglichkeiten für eine informierte Bildungs- bzw. Berufswegentscheidung erschwert werden. Jugendliche scheinen daher aktuell noch stärker dazu geneigt zu sein, ihre Schullaufbahn – unabhängig davon, ob diese erfolsversprechend ist oder nicht – fortzusetzen. Eine Neuorientierung angesichts der wirtschaftlichen Negativschlagzeilen und der anhaltenden Unsicherheit steht aktuell noch seltener auf der Agenda. Das wird insbesondere bei Betrachtung der Entwicklung der Lehranfängerinnen und Lehranfänger nach Vorbildung deutlich: Im Krisenjahr 2020 hat sich die Zahl der Lehrlinge im ersten Lehrjahr in der Steiermark um 8,8 % bzw. 420 Personen reduziert. Den größten Rückgang verzeichnete dabei jene Gruppe von Jugendlichen, die sich für eine vorzeitige Beendigung ihrer weiterführenden Schullaufbahn entschieden hat. Konkret ist die Zahl der Bildungswegwechslerinnen und -wechslern unter den Lehranfängern 2020 um 14,7 % bzw. 267 Personen gesunken, womit knapp zwei Drittel des Gesamtrückganges auf diese Personengruppe zurückzuführen ist. Aber auch jene, die erfolgreich eine weiterführende Schule abschließen konnten, entschieden sich 2020 auffallend seltener für eine duale Berufsausbildung (2020: ‑22,6 %).
Eine Ausbildung am Puls der Zeit: Echte Perspektive für Berufseinsteiger versus Imageproblem
Liegt es an den Karrieremöglichkeiten der Lehre im Vergleich zur schulisch-akademischen Bildungslaufbahn? Nein. Lehrabsolventinnen und Lehrabsolventen, insbesondere in handwerklichen und technischen Berufen, sind gefragter denn je. Selbst im Zuge der Covid-19-bedingten Wirtschaftskrise, die von vergleichsweise hohen Arbeitslosenzahlen begleitet wurde, blieb der Fachkräftemangel ein Thema (siehe Blog-Beitrag Demographie und Arbeitsmarkt). Zusätzlich zur Tatsache, dass es sich beim Lehrabschluss um eine am Arbeitsmarkt gefragte Qualifikation handelt, ist die Lehre eine hochmoderne Ausbildung am Puls der Zeit: Lehrberufe werden in Österreich laufend überarbeitet und an die aktuellen Anforderungen der Wirtschaft angepasst. Allein im Jahr 2021 wurden bereits zwei Lehrberufspakete erlassen (siehe Lehrberufspaket 1/2021, Lehrberufspaket 2/2021), um Lehrberufe neu zu regeln und zu modernisieren. Diese Ausbildungsschiene bietet damit eine ausgezeichnete Basis für Berufseinsteiger, auch wenn die landläufige Meinung oftmals eine andere ist und eine schulisch-akademische Ausbildung nach wie vor einen höheren Stellenwert genießt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen gilt es weiter am Image der Lehre zu arbeiten. Altmodische Begrifflichkeiten wie beispielsweise „Lehrling“ müssen endlich durch zeitgemäße Bezeichnungen ersetzt werden, die auch für (junge) Erwachsene als „attraktiv“ wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist die Gleichwertigkeit von beruflichen und schulisch-akademischen Bildungslaufbahnen (wie z.B. von einer Meisterprüfung und einem Bachelorabschluss) besser in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Zum anderen liegt es an einer nach wie vor unzureichenden Bildungs- und Berufsorientierung an Österreichs Schulen. In diesem Bereich wurden in den vergangenen Jahren zwar erste Schritte in die richtige Richtung gesetzt, vor allem in den Allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) besteht aber weiterhin akuter Ausbaubedarf. Zudem müssen in Österreich bereits sehr früh erste Bildungs- und Berufswegentscheidungen getroffen werden. In Kombination mit den Informationsdefiziten auf Eltern- , Lehrer- und Schülerseite sind daher Fehlentscheidungen vorprogrammiert. Informations- sowie Bildungs- und Berufsorientierungsangebote gäbe es in Österreich genug, es mangelt aber an einer strukturierten Herangehensweise – sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Gerade in Anbetracht des akuten Fachkräftemangels wäre es daher notwendig, die öffentliche Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten für (junge) Erwachsene zu lenken, anstatt eine angebliche Perspektivenlosigkeit zu beklagen.